... Das Verrückte am Transsexualismus ist, dass die Transsexuellen nicht verrückt sind. Ihre seelische Verfasstheit ist kein Irrtum' der Natur, sondern ein Kunstwerk' des Menschen. Als durchwegs psychotisch erscheinen sie nur dem flüchtigen Blick, den zuletzt einige französische Psychoanalytiker der Lacan-Schule geworfen haben. Nachdem der Meister nebenbei vom transsexuellen Delirium' gesprochen hatte, stuften sie die präoperativen Transsexualisten' und postoperativen Transsexuelle' genannten Menschen als psychotisch' ein, obgleich sie auch nach ihrem Eindruck keine klassischen' psychotischen Symptome aufwiesen. Sie seien aber trotzdem psychotisch', weil sie die Realität der Geschlechterdifferenz in der symbolischen Ordnung' verwürfen. (S. 117)
... Wenn wir ernsthaft entpathologisieren wollen, sollten wir unseren ordnenden
Heilungswillen dämpfen, der, dem geschlechtlichen Grundsatz Mann
oder Frau' und dem sexuellen Grundsatz Mann und Frau' entsprungen,
geschlechtliche und sexuelle Überschreitungen so schwer ertragen kann (...);
sollten wir Andersartigkeiten, die wir nie verstehen werden als, als Lebensnotwenigkeiten
respektieren; sollten wir die Illusion aufgeben, wir könnten eines Tages
die Ursache' der Krankheit' Transsexualismus finden und damit eine
kausale Therapie', gar eine ideale und endgültige Lösung
des Problems' (wie ich kürzlich in einer Doktorarbeit las); sollten wir
blinde Befürwortung der Geschlechtsumwandlungsoperation wie blinde Ablehnung
als zwei Seiten einer gesplitteten Rationalisierung begreifen; sollten wir aufhören,
einen unauffälligen Menschen schlechthin als gesund', einen befremdlichen
aber als krank' einzusortieren, obgleich er seelisch kreativ ist und lebenstüchtig;
sollten wir die geschlechtsumwandelnden Eingriffe entdämonisieren und die
große Analytische Kur, die am Verschwinden ist, entidealisieren, beides
aus Gründen der Realitätsgerechtigkeit; sollten wir den Wunsch nach
Geschlechtswechsel als transintelligibel begreifen und das subjektive Leiden
der sogenannten Transsexuellen als einen Niederschlag objektiver Negativität,
die jeder Therapie entzogen ist. Kurzum, wir sollten theoretisch noch einmal
von vorne anfangen.
Vielleicht steckt ja das Forschungsprogramm in jener atemberaubenden Fußnote,
die Freud 1915 den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie' hinzufügt.
Dort ist die Rede davon, dass auch das ausschließliche Interesse
des Mannes für das Weib ein der Aufklärung bedürftiges Problem
und keine Selbstverständlichkeit' sei, der eine im Grunde chemische
Anziehung zu unterlegen ist.' Diese Aufklärung ist bisher nicht erfolgt,
weil die Heterosexualität als Chemie genommen wird, die wie ein Naturgesetz
wirkt. Und dann widersetzt sich' Freud in jener Fußnote mit
aller Entschiedenheit dem Versuche, die Homosexuellen als eine besonders geartete
Gruppe von anderen Menschen abzutrennen'. Er widersetzt sich, weil alle
Menschen der gleichgeschlechtlichen Objektwahl fähig sind und dieselbe
auch im Unbewussten vollzogen haben.'
Dass Freud nicht in der Lage war, seine eminent humanen Gedanken von der Sphäre
des Sexuellen auf die des Geschlechtlichen zu übertragen, ja dass er sich
als Aufklärer selbst im Stich gelassen hat, sobald es um Männlichkeit/Weiblichkeit
ging, weil er den generischen Binarismus und das Weib' als minderwertiges'
Geschlecht nicht als allgemeine Selbstverständlichkeit durchschaute, ändert
nichts an der Notwendigkeit, noch die letzten scheinbar eingeborenen'
Ideen aufzulösen, noch das letzte Raunen unvermittelter Natürlichkeit
der Kritik zu unterwerden.
Denken wir also mit Freud gegen Freud, betrachten wir nicht den Transsexualismus
als conundrum, sondern auch sein Gegenstück, den Zissexualismus. Mit einem
Satz: Indem wir andere als die manifesten geschlechtlichen Empfindungen und
Erlebnisse studieren, erfahren wir, dass alle Menschen gegengeschlechtlicher'
Phantasien fähig sind. Im Seelenleben haben sie gewiss keine geringere
Bedeutung als die, die sich auf das eigene' Geschlecht beziehen, weil
es das eigene' Geschlecht ohne das andere überhaupt nicht gäbe.
In dem Sinn sind ausformulierte Männlichkeit/Weiblichkeit, um nicht zu
sagen Zwangsmännlichkeit/Zwangsweiblichkeit, Einschränkungen nach
der einen oder anderen Seite, mithin die männliche Geschlechtsidentität
des Mannes und die weibliche Geschlechtsidentität der Frau ein der Aufklärung
bedürftiges Problem und keine Selbstverständlichkeit, der eine letztendlich
natural-körperliche Verursachung à la H-Y-Antigen zu unterlegen
ist. (S. 119 - 121)
Ich gestatte mir hier einmal Zissexualismus' und Zissexuelle',
ganz sachlogisch und sprachlich korrekt, einzuführen um die geschlechtseuphorische
Mehrheit, bei der Körpergeschlecht und Geschlechtsidentität fraglos
und scheinbar natural zusammenfallen, in jenes falbe Licht zu setzen, in dem
nosomorpheer Blick und klinischer Jargon die geschlechtsdysphorische Minderheit,
namentlich die Transsexuellen, erkennen zu können glauben. Das lateinische
cis- bedeutet als Vorsilbe diesseits'. So meint zisalpin': (von
Rom aus gesehen) diesseits der Alpen. Das lateinische trans- bedeutet als Vorsilbe
hindurch, quer durch, hinüber, jenseits, über - hinaus'. So
meint transkutan': durch die Haut hindurch und transatlantisch'
meint: überseeisch, (von uns aus gesehen) jenseits des Atlantik. Zissexuelle
erleben und befinden sich also (vom Körpergeschlecht aus gesehen) diesseits',
Transsexuelle jenseits'.
Die alte Sexuologie kannte zwar nicht den Ausdruck Zissexualismus', Hirschfeld
hat aber, nachdem er den Ausdruck Transvestitismus' eingeführt hatte
von Cisvesititen' gesprochen (1914 ...). In seiner Geschlechtskunde'
unterscheidet Hirschfeld dann Alterzisvestiten', die sich mit dem Mittel
der Kleidung ein jüngeres Aussehen verschaffen, und Standeszisvestiten',
die sich sozial höher oder tiefer stellen (...).