Gendertalk im Frauencafe

Volkmar Sigusch

Das Rätsel des Zissexualismus

Aus: Volkmar Sigusch (1995): "Geschlechtswechsel", Rothbuch Taschenbuch 1009, Rotbuch Verlag, Hamburg.


 

... Das Verrückte am Transsexualismus ist, dass die Transsexuellen nicht verrückt sind. Ihre seelische Verfasstheit ist kein ‚Irrtum' der Natur, sondern ein ‚Kunstwerk' des Menschen. Als durchwegs psychotisch erscheinen sie nur dem flüchtigen Blick, den zuletzt einige französische Psychoanalytiker der Lacan-Schule geworfen haben. Nachdem der Meister nebenbei vom transsexuellen ‚Delirium' gesprochen hatte, stuften sie die präoperativen ‚Transsexualisten' und postoperativen ‚Transsexuelle' genannten Menschen als ‚psychotisch' ein, obgleich sie auch nach ihrem Eindruck keine ‚klassischen' psychotischen Symptome aufwiesen. Sie seien aber trotzdem ‚psychotisch', weil sie die Realität der Geschlechterdifferenz in der ‚symbolischen Ordnung' verwürfen. (S. 117)

... Wenn wir ernsthaft entpathologisieren wollen, sollten wir unseren ordnenden Heilungswillen dämpfen, der, dem geschlechtlichen Grundsatz ‚Mann oder Frau' und dem sexuellen Grundsatz ‚Mann und Frau' entsprungen, geschlechtliche und sexuelle Überschreitungen so schwer ertragen kann (...); sollten wir Andersartigkeiten, die wir nie verstehen werden als, als Lebensnotwenigkeiten respektieren; sollten wir die Illusion aufgeben, wir könnten eines Tages die ‚Ursache' der ‚Krankheit' Transsexualismus finden und damit eine ‚kausale Therapie', gar eine ‚ideale und endgültige Lösung des Problems' (wie ich kürzlich in einer Doktorarbeit las); sollten wir blinde Befürwortung der Geschlechtsumwandlungsoperation wie blinde Ablehnung als zwei Seiten einer gesplitteten Rationalisierung begreifen; sollten wir aufhören, einen unauffälligen Menschen schlechthin als ‚gesund', einen befremdlichen aber als ‚krank' einzusortieren, obgleich er seelisch kreativ ist und lebenstüchtig; sollten wir die geschlechtsumwandelnden Eingriffe entdämonisieren und die große Analytische Kur, die am Verschwinden ist, entidealisieren, beides aus Gründen der Realitätsgerechtigkeit; sollten wir den Wunsch nach Geschlechtswechsel als transintelligibel begreifen und das subjektive Leiden der sogenannten Transsexuellen als einen Niederschlag objektiver Negativität, die jeder Therapie entzogen ist. Kurzum, wir sollten theoretisch noch einmal von vorne anfangen.

Vielleicht steckt ja das Forschungsprogramm in jener atemberaubenden Fußnote, die Freud 1915 den ‚Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie' hinzufügt. Dort ist die Rede davon, dass ‚auch das ausschließliche Interesse des Mannes für das Weib ein der Aufklärung bedürftiges Problem und keine Selbstverständlichkeit' sei, ‚der eine im Grunde chemische Anziehung zu unterlegen ist.' Diese Aufklärung ist bisher nicht erfolgt, weil die Heterosexualität als Chemie genommen wird, die wie ein Naturgesetz wirkt. Und dann ‚widersetzt sich' Freud in jener Fußnote ‚mit aller Entschiedenheit dem Versuche, die Homosexuellen als eine besonders geartete Gruppe von anderen Menschen abzutrennen'. Er widersetzt sich, weil ‚alle Menschen der gleichgeschlechtlichen Objektwahl fähig sind und dieselbe auch im Unbewussten vollzogen haben.'

Dass Freud nicht in der Lage war, seine eminent humanen Gedanken von der Sphäre des Sexuellen auf die des Geschlechtlichen zu übertragen, ja dass er sich als Aufklärer selbst im Stich gelassen hat, sobald es um Männlichkeit/Weiblichkeit ging, weil er den generischen Binarismus und ‚das Weib' als ‚minderwertiges' Geschlecht nicht als allgemeine Selbstverständlichkeit durchschaute, ändert nichts an der Notwendigkeit, noch die letzten scheinbar ‚eingeborenen' Ideen aufzulösen, noch das letzte Raunen unvermittelter Natürlichkeit der Kritik zu unterwerden.

Denken wir also mit Freud gegen Freud, betrachten wir nicht den Transsexualismus als conundrum, sondern auch sein Gegenstück, den Zissexualismus. Mit einem Satz: Indem wir andere als die manifesten geschlechtlichen Empfindungen und Erlebnisse studieren, erfahren wir, dass alle Menschen ‚gegengeschlechtlicher' Phantasien fähig sind. Im Seelenleben haben sie gewiss keine geringere Bedeutung als die, die sich auf das ‚eigene' Geschlecht beziehen, weil es das ‚eigene' Geschlecht ohne das andere überhaupt nicht gäbe. In dem Sinn sind ausformulierte Männlichkeit/Weiblichkeit, um nicht zu sagen Zwangsmännlichkeit/Zwangsweiblichkeit, Einschränkungen nach der einen oder anderen Seite, mithin die männliche Geschlechtsidentität des Mannes und die weibliche Geschlechtsidentität der Frau ein der Aufklärung bedürftiges Problem und keine Selbstverständlichkeit, der eine letztendlich natural-körperliche Verursachung à la H-Y-Antigen zu unterlegen ist. (S. 119 - 121)



Fußnote zu "Zissexualismus":

Ich gestatte mir hier einmal ‚Zissexualismus' und ‚Zissexuelle', ganz sachlogisch und sprachlich korrekt, einzuführen um die geschlechtseuphorische Mehrheit, bei der Körpergeschlecht und Geschlechtsidentität fraglos und scheinbar natural zusammenfallen, in jenes falbe Licht zu setzen, in dem nosomorpheer Blick und klinischer Jargon die geschlechtsdysphorische Minderheit, namentlich die Transsexuellen, erkennen zu können glauben. Das lateinische cis- bedeutet als Vorsilbe ‚diesseits'. So meint ‚zisalpin': (von Rom aus gesehen) diesseits der Alpen. Das lateinische trans- bedeutet als Vorsilbe ‚hindurch, quer durch, hinüber, jenseits, über - hinaus'. So meint ‚transkutan': durch die Haut hindurch und ‚transatlantisch' meint: überseeisch, (von uns aus gesehen) jenseits des Atlantik. ‚Zissexuelle erleben und befinden sich also (vom Körpergeschlecht aus gesehen) ‚diesseits', Transsexuelle ‚jenseits'.
Die alte Sexuologie kannte zwar nicht den Ausdruck ‚Zissexualismus', Hirschfeld hat aber, nachdem er den Ausdruck ‚Transvestitismus' eingeführt hatte von ‚Cisvesititen' gesprochen (1914 ...). In seiner ‚Geschlechtskunde' unterscheidet Hirschfeld dann ‚Alterzisvestiten', die sich mit dem Mittel der Kleidung ein jüngeres Aussehen verschaffen, und ‚Standeszisvestiten', die sich sozial höher oder tiefer stellen (...).


Kürzungen und Hervorherbungen von E.F..